17. November Eintopf aus UPF, Zucker und Kokain? – Ab in die Tonne!
Das muss man erstmal hinkriegen: Drei tödliche Bedrohungen für unser leibliches Wohl in einem Satz aus sechs Wörtern: „Fertignahrung: Ist Zucker das neue Kokain?“ – so zu lesen als Headline über dem aktuellen Beitrag des Fachjournalisten Dr. Frank Dippel im Medizinportal „DocCheck“. Beim gegenwärtigen Hype um Ultra Processed Food (UPF) und seine ‚schlimmen Folgen‘ für unsere Gesundheit war es nur eine Frage der Zeit, wann hoch verarbeiteten Lebensmitteln der Stempel „macht süchtig“ aufgedrückt würde. Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine kürzlich veröffentlichte Studie in „Addiction“ – einem Fachjournal im Bereich der Suchtmedizin mit wissenschaftlichem Anspruch. Zu den Veröffentlichungen, die diesem Anspruch nur bedingt gerecht werden, gehört die im Oktober 2024 veröffentlichte Studie zum Suchtpotential von Ultra-Processed-Food (UPF) (DOI: 10.1111/add.16667. .
Das Forschungsteam befragte 2.000 ältere Erwachsene in den USA auf Basis der Modified Yale Food Addiction Scale 2.0 (mYFAS) – einem Fragebogen, der erfassen soll, ob jemand suchtähnliche Verhaltensweisen beim Essen zeigt. Ergebnis: Rund 12 % der Teilnehmenden – häufiger Frauen – zeigten dabei ein suchtähnliches Essverhalten. Allerdings beruht dieses Ergebnis auf Selbstauskunft und nicht auf klinischer Diagnostik. Dippels Darstellung dagegen suggeriert, der Zusammenhang zwischen UPF, Zucker und Sucht sei wissenschaftlich längst geklärt – was schlicht nicht stimmt. Dippel zitiert die Studie zwar korrekt, verlässt aber den Boden neutraler Berichterstattung, sobald er die Ergebnisse interpretiert. Schließlich handelt es sich um eine Querschnittsstudie mit Ergebnissen fern jeder Kausalität. Ob verarbeitete Lebensmittel tatsächlich süchtig machen, lässt sich daraus eindeutig nicht ableiten.
Die Autor:innen der Studie sind im übrigen überwiegend Psycholog:innen und Verhaltensforscher:innen. Ernährungswissenschaftler:innen sucht man darunter vergebens. So überrascht es nicht, dass die ernährungswissenschaftlichen Basics von UPF in der Studie nur gestreift, nicht analysiert werden. Entsprechend misst die Arbeit, wie Menschen ihr Essverhalten erleben – und nicht, was oder wie viel sie tatsächlich essen und wie gut oder schlecht das aus ernährungsphysiologischer Sicht ist. Dass die Ernährungswissenschaft ein Suchtpotenzial von Zucker im pharmakologischen Sinn nicht anerkennt, ist den Autor:innen keine Silbe wert. Bei stark verarbeiteten Lebensmitteln beobachtet die Ernährungswissenschaft allenfalls suchtähnliche Muster, keine echte Abhängigkeit im klinischen Sinn. Zucker und Fett aktivieren das Belohnungssystem – aber das tun auch Musik, Sport oder soziale Anerkennung. Es gibt weder Entzugserscheinungen noch neurotoxische Effekte oder Toleranzsteigerung, wie sie bei Drogen vorkommen. „Zuckersucht“ ist demnach ein populärer Mythos mit psychologischem Kern, aber ohne neurobiologische Substanz. Realistisch ist: Zucker macht Gewohnheit, Lust, Pfunde und manchmal Schuldgefühle – aber keine Sucht.
Dippel fügt den Unschärfen der Studie in seinem Beitrag noch einen schweren Fehler hinzu, wenn er UPF auf Zucker reduziert – und im Zucker den „Suchtstoff“ identifiziert. Im Originaltext der Addiction-Studie findet sich dafür keine Grundlage. Die Autor:innen sprechen dort ausdrücklich von ultra-verarbeiteten Produkten, die Zucker, Fett, Salz, Emulgatoren und Aromen kombinieren. Zucker ist ein -zweifellos wichtiger – Bestandteil, aber nicht der Übeltäter allein. So leicht kann Wissenschaftsjournalismus abgleiten in populistische Vereinfachung.
Apropos Populismus: Überschriften müssen verkürzen und dürfen provokant sein, um im harten Kampf um Aufmerksamkeit nicht unterzugehen. Wenn die Headline allerdings zur Fake-News wird, ist das ein No Go. Ein Medizinportal, das Wert auf Seriosität legt, begibt sich damit auf die Ebene des Boulevards. Und Autor Dr. Dippel hat mit dieser Überschrift ganz klar den wissenschaftlichen Kompass verloren. Medizinjournalismus braucht Kontext statt Clickbaiting. Wer Zucker mit Kokain vergleicht, betreibt nicht Aufklärung, sondern Panikmache und Verunsicherung. Das mag Reichweite bringen – geht aber auf Kosten der Glaubwürdigkeit.
Was noch zu sagen wäre: Auf seine Frage in der Headline – „Ist Zucker das neue Kokain?“ – gibt Dr. Dippel seinen Lesern keine Antwort – ziemlich unfair!
Und noch eine letzte Bemerkung: Ich bin weiß Gott kein Freund von UPF – Aber trotzdem sollte man in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema die Kirche im Dorf lassen. Ein Eintopf aus Fertignahrung, Zucker und Kokain wird der Sache nicht gerecht.
Abb.: KI Dr. Friedhelm Mühleib
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